Auszug aus dem Buch "Deutschland in der Urzeit"
des Wissenschaftsautors Ernst Probst in alter deutscher Rechtschreibung:
Bei Grabungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab der Boden der kleinen rheinland-pfälzischen Gemeinde Eppelsheim in der Nähe von Alzey viele Überreste von ausgestorbenen Säugetieren preis, die ganz wesentlich zum Verständnis der Entwicklungsgeschichte der Säuger beigetragen haben. Besonders abenteuerlich hört sich die Entdeckung des sogenannten "Schreckenstieres" an, um dessen Erforschung sich der Inspektor des Naturalienkabinetts am Großherzoglichen Museum in Darmstadt, Johann Jakob Kaup - www.johannjakobkaup.de.vu -, verdient machte.
Es ist heute nicht mehr zu eruieren, wann die ersten fossilen Knochen und Zähne in den Sandgruben von Eppelsheim zum Vorschein kamen. Fest sieht jedoch: Seit 1817 wurden Urzeitfunde aus den Sandgruben am Jürgenbauer nach Darmstadt gebracht. Vermutlich geschah dies, weil der Direktor des dortigen Museums, Ernst Schleiermacher, dafür Prämien ausgesetzt hatte. An der Sucharbeit beteiligte sich der Mitarbeiter des Museums, Johann Jakob Kaup.
Vom "Schreckenstier" waren damals schon einzelne Backenzähne in Frankreich geborgen worden. Da sie eine ähnliche Form wie die von Tapiren aufwiesen - sie waren bloß etwas größer -, ordnete sie der Pariser Wirbeltier-Paläontologe Georges Cuvier einem Riesentapir zu. Andere Gelehrte übernahmen diese Auffassung. Kaup bekam 1828 aus Eppelsheim den zerbrochenen Unterkiefer eines solchen vermeintlichen Riesentapirs zu Gesicht. Dieses Fossil ließ erkennen, daß das Tier im Unterkiefer zwei kräftige Stoßzähne besaß. Kaup setzte die Kieferfragmente so zusammen, daß die Stoßzähne nach vorn und oben gerichtet waren. So sah in der Gegenwart kein Tapir ans. Ohne zu wissen, wie der Rest dieses Lebewesens gestaltet sein mußte, benannte Kaup 1829 das seltsame Fossil "Deinotherium giganteum" also "Schreckenstier".
1833 erhielt Kaup einen nahezu vollständigen Unterkiefer eines solchen Tieres aus Eppelsheim, an dem die Stoßzähne nicht nach oben gerichtet waren, sondern eindeutig nach unten ragten und rückwärts gekrümmt waren. Kaup korrigierte noch im selben Jahr seinen Irrtum bei der Rekonstruktion. Nun hielt er das Tier für ein Flußpferd (Hippopotamus).
Erst ein weiterer Fund aus Eppelsheim brachte Klarheit über die wahre Natur des Säugetieres. 1835 holte der Gießener Geologe August von Klipstein aus einer von ihm eigens für Fossilgrabungen erworbenen Sandgrube den ersten Oberschädel des rätselhaften Tieres ans Tageslicht. Er benachrichtigte seinen Freund Kaup über diese sensationelle Entdeckung und bat ihn um Hilfe bei der Bergung.
Über die Bergung notierte Kaup, daß 21 starke Männer, die auf einem Gerüst standen, den zuvor besonders gegen Bruch gesicherten, noch mit Gestein umgebenen Schädel in die Höhe zogen. Die Last soll mehr als acht Zentner gewogen haben. Dann wurde der "Schreckenstier"-Schädel auf einen niedrigen Wagen geschafft, auf dem er auf einem Kissen ruhte, mit dem etwaige Stöße aufgefangen werden sollten. Denn die Fahrt zum nahegelegenen Städtchen Alzey ging über holprige Feldwege. Von Alzey aus wurde das Fossil nach Darmstadt zu seinem Besitzer August von Klipstein transportiert.
1856 beschrieben Klipstein und Kaup in deutscher und französischer Sprache den ein Jahr zuvor geborgenen Dinotherium-Schädel. Auf die Titelseite der mit detaillierten Abbildungen des aufregenden Fundes ausgestatteten Veröffentlichung brachte Kaup eine Landschaft mit verschiedenen Tieren, deren Knochen in Eppelsheim gefunden wurden. Jene Zeichnung ist eine der frühesten Rekonstruktionen einer vorzeitlichen Landschaft und deren Tierwelt.
Auf dieser Zeichnung verriet Kaup deutlicher als in seinen Schriften, wie er sich das "Schreckenstier" mit Haut und Haaren vorstellte: Der massige Körper eines Dickhäuters trägt hier einen schweren Kopf mit einem deutlichen Rüssel, den Kaup wegen der weiten Nasenöffnung am Schädel rekonstruierte. Aus dem Unterkiefer ragen zwei nach unten gerichtete Stoßzähne. Die Ohren sind auffallend klein. Da Kaup offensichtlich nicht wußte, ob das Tier die kurzen Beine eines Tapirs oder die langen eines Elefanten besaß, ließ er das "Schreckenstier" mit sorgfältig untergeschlagenen Beinen am Boden rasten.
Um den fehlenden Unterkiefer zu ersetzen, hatte Kaup nach einem Exemplar ans der Darmstädter Sammlung einen passenden Ersatz anfertigen lassen. Originalgetreue Abgüsse beider Stücke wurden damals für 280 Gulden oder 600 Francs von Darmstadt aus an Museen in aller Welt verkauft.
Weil die großherzogliche Sammlung in Darmstadt nicht über die nötigen Mittel für den Erwerb des Dinotherium-Schädels verfügte, suchte von Klipstein andere Kaufinteressenten. 1837 schafften er und Kaup das kostbare Fossil nach Paris, wo es ausgestellt wurde und die Akademie zum Erwerb bewegen sollte. Dazu kam es jedoch nicht.
Inzwischen diskutierten auch ausländische Forscher über die mutmaßliche Gestalt dieses unbekannten Tieres, allen voran der französische Zoologe Henri Ducrotay de Blainville. Der Londoner Paläontologe Dean William Buckland glaubte, in einigen Merkmalen des Schädels Übereinstimmung mit Seekühen zu erkennen. Damit wurde aus dem angeblichen Riesentapir nun eine Riesen-Seekuh. In einem französischsprachigen Lehrbuch des Genfer Paläontologen Francois Jules Pictet ist 1844 der Schädel aus Eppelsheim mit den Varianten Riesentapir und Seekuh abgebildet worden. Spätere Funde beendeten den Gelehrtenstreit.
Anhand eines 1853 in Prag entdeckten unvollständigen Skelettes mit Resten des Gebisses und elefantenartigen Langknochen konnte die Seekuh-Theorie widerlegt werden. Auch die Größe und die Gestalt eines 1883 im böhmischen Franzensbad (Frantiskovy Lázne) gefundenen, nahezu kompletten Skelettes ohne Oberschädel weisen das "Schreckenstier" als einen Verwandten der Elefanten aus. Das Franzensbader Exemplar ist ca. 3,20 Meter lang und 2,50 Meter hoch, also etwas kleiner als der vermutlich mehr als drei Meter große Eppelsheimer Fund.
Weil das Dinotherium zuerst in Rheinhessen entdeckt wurde, heißt es auch Rhein-Elefant. Seine nach unten gerichteten hakenförmig gekrümmten "Stoßzähne" trugen ihm außerdem den Namen "Hauer-Elefant" ein. Die typische Begleitfauna der Fundorte sowie der Bau des ausgesprochen hochbeinigen Skeletts und das tapirähnliche Gebiß des Dinotherium deuten daraufhin, daß es sich um einen laub- und möglicherweise auch früchteäsenden Waldbewohner handelte.
1849 wurde der Dinotherium-Schädelfund aus dem Besitz von August von Klipstein ohne Erfolg in London zum Verkauf angeboten. 1862 offerierte von Klipstein seine gesamte geologische Sammlung, die nahezu 20000 Stücke umfaßte, im "Neuen Jahrbuch für Mineralogie, Geognosie, Geologie und Petrefaktenkunde" erneut zum Verkauf. Neben 360 Fossilien aus Eppelsheim wurde ausdrücklich der "schön erhaltene Schädel von Dinotherium giganteum, eines der kolossalsten Thiere der Vorwelt" angeführt. 1866 erwarb Thomas B. Oldham, der Direktor des geologischen Dienstes in Indien, die Sammlung. Er gab 1867 den Schädel mit weiteren Stücken aus den Eppelsheimer Dinotheriensanden an das British Museum (Natural History) in London. Andere Teile seiner Sammlung wurden nach Kalkutta gebracht. Oft wurde behauptet, daß der Schädel des Dinotherium auf dem Transport nach England zerbrochen sei, aber das war nur ein Gerücht. Denn noch heute ist das Original aus Eppelsheim wohlbehalten in London aufbewahrt. Je eine gute Kopie befindet sich im Hessischen Landesmuseum Darmstadt, im Museum Wiesbaden und im Naturhistorischen Museum Mainz.
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